@DragonOfTanelorn
Ich überlege gerade wie ich dir jetzt antworten soll, weil du sehr ausgewogene und unpolemische Beiträge schreibst (wenig Angriffsfläche!)
Aber warum sollte ich dich auch angreifen. Ich versuche stattdessen mal den "vernünftigen Anarchisten" zu machen und einige Fäden zusammenzuführen.
Dabei muss ich ein wenig ausholen, um noch etwas Relevantes zur Diskussion beitragen zu können, da wie immer im Leben Alles irgendwie mit Allem zusammenhängt. Ich verspreche aber den Bezug zum Patriotismus nicht aus dem Auge zu verlieren.
Dabei nehme ich schon mal vorweg, dass es sich bei vielen Betrachtungen einfach um Befindlichkeiten handelt und nicht um objektive Wahrheiten. Dieselbe Betrachtung wird also z.B. bei uns Beiden unterschiedliche Schlussfolgerungen hervorrufen. Die Gründe dafür mögen z.B. in der Sozialisation liegen. Wie gesagt - eigentlich ein viel zu komplexes Thema um es in einem Forenbeitrag abzuhandeln.
Du gehst auf zwei sehr wichtige Funktionen des Staates ein: Versorgung und Schutz. Ich finde es absolut verständlich, dass du von jedem, der die Staaten abschaffen will, eine brauchbare Antwort darauf verlangst, wie denn Versorgung und Schutz anders gewährleistet werden sollen. Ich versuche im Folgenden Gedanken dazu zu entwickeln. Zuerst möchte ich aber umreißen, warum denn jemand überhaupt dazu kommt die Abschaffung der Nationalstaaten zu fordern, selbst wenn dieser dessen Vorteile anerkennt und eventuelle sogar vom Staat lebt - ja auch ich bekomme Bafög
Du hast ja bereits mehrfach den so genannten Verfassungspatriotismus angedeutet:
Doch trotzdem, oder vielleicht auch gerade deshalb, stehe ich hinter unserer Nation, hinter unserem Grundgesetz und hinter der Kultur unserer Regierungen der letzten 62 Jahre.
Dieses Land steht für:
- Freiheit
- Gleichheit
- Rechtschaffenheit
- Gerechtigkeit
- Engagement in der Welt
- Soziales Netz, das all die auffängt die Hilfe brauchen
Du bist also stolz auf dieses Land, weil es Werte umsetzt, die dir selber wichtig sind. Dabei hast du schon mal eine gemeinsame Basis mit den vernünftigen Anarchisten, denn genau diese Prinzipien sind ihnen auch immens wichtig - ich sag ja, dass ich Fäden zusammenführe
Allerdings stimme ich nicht unbedingt mit dir darin überein, dass dieser Staat für diese Werte steht. Mir ist dabei durchaus bewusst, dass es in der BRD noch so ziemlich am besten aussieht was die Realisierung dieser Ideale angeht. Aber ich will ja auch nicht gegen die BRD polemisieren sondern im Gegenteil auch auf Erscheinungen in anderen Staaten eingehen, die ich viel schlimmer finde als das was hier passiert. Trotzdem finde ich, dass es meiner Position Gewicht verleihen würde, wenn ich aufzeigen könnte, dass selbst der Musterschüler unter den Staaten seine Hausaufgaben nicht macht.
Ich fange dabei mit der Situation in Deutschland an, da der deutsche Teenager, der anfängt politisch zu denken naturgemäß als erstes Eindrücke aus seinem direkten Umfeld gewinnt. Gehen wir davon aus, dass dieser junge Mensch bis zu diesem Punkt von der Verfasstheit des Staates, in dem er lebt, nur profitiert hat. Er lebt in einem Umfeld, das ein besonders effektives und konfliktarmes Zusammenleben von 80 Millionen Menschen ermöglicht. Das Ergebnis ist ein erstaunliches Wohlstandsniveau und eine unversehrte Gesundheit.
Trotzdem verliert er, sobald er sich etwas weiter aus dem Elternhaus hinaus traut, die Illusion, dass bei all dem Fortschritt nichts auf der Strecke bleibt. Als erstes wird ihm vielleicht klar, dass es eben nicht "Gleichheit" ist, die unser hohes Wohlstandsniveau ermöglicht. Die DDR hat gezeigt, dass Gleichheit nicht dazu führt, dass Menschen besonders viel arbeiten oder sich gar aufopfern - wozu auch, wenn man doch so oder so gleich behandelt wird. Der junge Mensch fragt sich, warum unser Schulsystem so selektiv ist? Warum ist er auf der Realschule und warum darf er deswegen später nicht zur Universität gehen? Weshalb bekommen die Leute die zur Uni gegangen sind mehr Geld und können sich schönere Sachen kaufen? Es dämmert ihm, dass die Gleichheit sich darin erschöpft, dass jeder das gleiche tun dürfte, wenn er denn könnte, und dass der Staat eigentlich vielmehr daran interessiert ist, Konkurrenz unter seinen Bürgern zu erzeugen, weil er wiederum mit anderen Staaten konkurriert, die ihrerseits das Wettrennen an die Spitze unter ihren Bürgern anfachen. In seiner Klasse wird er ausgelacht, weil seine Eltern kein Geld haben um ihm die Klassenfahrt zu bezahlen. Dass sein Vater behindert ist und seine Mutter nicht arbeiten kann weil sie den Vater pflegen muss, weis niemand, denn Schwäche zeigen führt in einer Leistungsgesellschaft dazu, dass man ausgelacht wird - soviel hat er schon vom Leben mitbekommen. Er fühlt sich ungerecht behandelt - wie gesagt eine reine Befindlichkeit.
Der junge Mensch reagiert trotzig und kapselt sich ab, er sagt sich, dass er sich nicht fertigmachen lässt. Aber er hat die Rechnung ohne die Eltern gemacht. Sie wollen, dass er den sozialen Aufstieg schafft - aus ihm soll mal was werden - sprich er soll mal gut verdienen. Die Pubertät, der Druck der Eltern und die Ausgrenzung werden ihm zu viel - er tritt die Flucht noch vorne an und haut von zu Hause ab.
Die nächste Lektion steht an: Die Freiheit ist eben nicht die Freiheit der Andersdenkenden sondern die Freiheit der Mehrheit und derer die besser bewaffnet sind - in Deutschland ist das der Staat; woanders sind es Milizen.
Er erfährt was es bedeutet, wenn jeder Quadratmeter Land irgendjemandem gehört. Seine Freiheit beschränkt sich darauf, den Sicherheitsleuten Folge zu leisten, um von der einen Nische in die nächste zu kriechen. Es wird Winter und er zieht sich mit den Leuten, die er in der Zeit kennen gelernt hat, in ein verlassenes Haus zurück. Leider findet sich ein Investor, der dort eine Agentur einrichten will und unser immer noch junger Mensch erfährt wie hart Polizeiknüppel doch sind. Er fängt an die Leute zu hassen, die ihm wehtun - er ist ein Anarchist. Das Leben auf der Strasse hält er jedoch nicht lange durch und er nimmt widerwillig die Hilfe des Staates an, den er zu hassen gelernt hat. Ja, er lebt vom Staat.
Doch nun richtet sich sein Blick weiter. Er ist alt genug um zu erkennen, dass sich die Welt nicht um ihn dreht und dass es anderen Menschen viel dreckiger geht. Er liest Zeitung und setzt sich mit der Tagespolitik auseinander. Und erschrocken stellt er fest, dass nur für die Gleichheit gilt, denen Deutschland als Geburtsort zugewürfelt wurde. Warum subventioniert Deutschland seine Landwirtschaft so stark, dass dadurch Afrikanischen Bauern die Existenzgrundlage entzogen wird? Warum erhebt Europa so hohe Zölle auf viele ausländische Waren, dass sich woanders auf der Welt die Volkswirtschaften nicht entwickeln können? Warum verkauft Deutschland Waffen, die sich dann Milizen mit deutscher Entwicklungshilfe beschaffen um ganze Völker zu unterdrücken? Und warum schlitzen sich dann Flüchtlinge an europäischem Stacheldraht auf, die auf Grund von Armut und Bürgerkrieg keinen anderen Ausweg mehr sehen als ins gelobte Land Europa zu emigrieren.
Das könnte ihm alles egal sein, da es ihn eigentlich nichts angeht. Eigentlich. Aber er ist vielleicht die Vorhut eines neuen Wertekanons. Er ist vielleicht einer der ersten Vertreter, die sich tatsächlich als Bewohner des "globalen Dorfes" empfinden und denen jeder Mensch gleich wichtig ist. Ein Afrikaner der leidet macht ihn unglücklich, genau so als ab sein Nachbar leidet.
Sein Blick reicht weiter, seine Eindrücke bestätigen sich immer wieder. Er blickt nach Russland, das in Tschetschenien Krieg gegen Menschen führt weil diese nicht mehr dem Russischen Staat angehören wollen.
Journalisten die darüber berichten werden auch gerne mal von Staatsbediensteten umgebracht weil die Staatsräson mehr zählt als eine beliebige Zahl an Menschenleben. Er blickt Richtung Türkei, in der es strafbar ist einen Völkermord zu erwähnen, den der Staat begangen hat - das heißt dann "Beleidigung des Türkentums". Er blickt nach China, wo ein allmächtiger Staat über Leichen geht um möglichst schnell zur Weltmacht zu werden. Wo 70000 Demonstrationen im Jahr niedergeprügelt werden und Taiwan einfach mal zur Chinesischen Provinz erklärt wird.
Er blickt zu den USA, wo Gesetze verabschiedet werden, in denen der Anspruch festgeschrieben wird die einzige Weltmacht zu bleiben! Dadurch kann durchaus die absurde Situation entstehen, dass es das Gesetz der USA bald notwendig macht Krieg gegen andere, aufstrebende, Nationen zu führen. Dabei hat es die USA schon immer wie keine andere Nation verstanden durch Ungleichheit in der Bevölkerung den Wettbewerb anzufachen und damit zur leistungsfähigsten Wirtschaft der Welt aufzusteigen.
Andere Staaten versuchen sich ihren Platz an der Sonne zu sichern indem sie einen neuen Wettlauf in der atomaren Rüstung beginnen. Der Anspruch eines jeden Staates ist es eben die erste Geige zu spielen und wenn man dafür die Vernichtung der Menschheit riskiert, dann ist das eben so.
Ich könnte das jetzt ewig fortführen aber darum geht es hier ja nicht. Ich wurde ja nach einer Alternative gefragt und möchte dort auch langsam hinführen - bzw. es versuchen.
Diese Eindrücke sind unangenehm und werden ganz bewusst von der Mitte der Gesellschaft ferngehalten. Schließlich steht in der Firma die nächste Beförderung an und es geht darum ob Ich oder mein Kollege demnächst das dickere Auto fahren. Jemand der diesen Pfad erstmal verlassen hat und sich den beschriebenen Eindrücken nicht verschließt, der kommt zu der Erkenntnis, dass sehr sehr viel Leid auf der Welt von Staaten und ihren Geltungsansprüchen ausgeht - dabei hab ich von den Kriegen der Vergangenheit, die durch diese Ansprüche verursacht worden sind ja noch gar nicht gesprochen, aber die sollten ja bekannt sein.